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Bochumer Ethnologie - Fachprofil

Der Bochumer Lehrstuhl für Ethnologie (früher: Sozialanthropologie) vermittelt in Lehre und Forschung das, was international Cultural und/oder Social Anthropology genannt wird. Innerhalb der Sektion teilt die Ethnologie mit der Sozialpsychologie nicht nur verschiedene theoriegeschichtliche Wurzeln, sondern auch denselben Gegenstandsbereich, nämlich den Zusammenhang zwischen Kultur, Individuum und Gesellschaft.

Die Bochumer Ethnologie steht in verschiedenen Traditionslinien:

  • von der neuen deutschen Ethnologie weiß sie insbesondere die akribische Forschung an konkreten lokalen Details vor Ort und den Fokus auf das (nicht: den) Fremde(n) zu schätzen;
  • Ansätze aus dem arabischen Raum (z.B. Khattibi, T. Hussein, Bennabi) haben die kritische Betrachtung kolonialer und postkolonialer Machtbeziehungen geprägt;
  • von der französischen Anthropologie übernimmt sie die Nähe zu philosophischem, künstlerischem, aber auch zu strukturalistischem Gedankengut (z.B. Descola, Lévi-Strauss, Mauss);
  • von der britischen Social Anthropology ist sie v.a. durch die Methode der Teilnehmenden Beobachtung, sowie durch den Bezug zur sozialen Praxis und zu sozialen Strukturen geprägt;
  • von der amerikanischen Cultural Anthropology hat sie den Bezug zur Hermeneutik, zu Symbolen und die Frage nach der Bedeutung übernommen;
  • von der älteren deutschen Völkerkunde übernimmt sie die Betonung der Regionalexpertise, die historische Perspektive auf Kultur und die Achtung der materiellen Kultur;
  • von der Europäischen Ethnologie (ehemals Volkskunde) übernimmt sie die Einbeziehung auch der eigenen Kultur sowie das Wissen über das historische Gewordensein gegenwärtiger Alltagsphänomen.

Die Umbenennung der früheren Denomination „Sozialanthropologie“ erfolgte aus verschiedenen Gründen:

  • Fachhistorisch: Sozialanthropologie bezeichnete über lange Zeit ein Fach, das Gesellschaft und Biologie/Rasse aneinander band. Inhalte und Ansätze eines vormals im deutschsprachigen Raume bestehenden Faches Sozialanthropologie sind hochgradig belastet, da sie eng an die rassebiologische Bevölkerungsplanung und an die Eugenik grenzen.
  • Epistemologie: Der Begriffsbestandteil „-anthropologie“ ist problematisch. In der US-Tradition setzt sich das Fach Anthropology aus den vier Feldern Linguistics, Archaeology, Cultural Anthropology und Physical Anthropology zusammen. Im Deutschen jedoch bezeichnet „Anthropologie“ keine einheitliche Disziplin, sondern ist Zusatz für verschiedene Fächer, die sich dem Wesen des Menschen zuwenden (wie etwa in der pädagogischen, der psychologischen oder der philosophischen Anthropologie) – unabhängig von seiner spezifischen kulturellen Prägung. Alle Vertreter der amerikanischen Cultural Anthropology, der britischen Social Anthropology und der deutschen Ethnologie wenden sich aber in erster Linie den kulturspezifischen Formen der gesellschaftlichen Daseinsbewältigung zu; das Interesse an dem Wesen des Menschen ist dem ganz klar nachgelagert. Letzteres hängt von den Ontologien ab, die den verschiedenen Kulturen der Welt zugrunde liegen, ist damit also selbst nur vor einer kulturellen Folie zu verstehen.
  • Verfehlte Internationalisierung: Im Zuge einer falsch verstandenen Internationalisierung wird Sozialanthropologie heute mitunter für ein Fach benutzt, das in Großbritannien als Social Anthropology, in der international führenden Nation (USA) allerdings als Cultural Anthropology bezeichnet wird. Gemeinsam ist Beiden die Zuwendung zur kulturellen Prägung des Gesellschaftlichen. Wollte man sich ernsthaft Internationalisieren, müsste man eine inhaltlich korrekte Form verwenden: Cultural and Social Anthropology. Genau für diesen Sachverhalt gibt es in Deutschland aber bereits eine altbewährte und eigene Bezeichnung: Ethnologie.

Ethnologie ist die adäquate Bezeichnung für den Lehrstuhl, weil er auf der Überzeugung basiert, dass eine kluge Anthropologie und Ethnographie zusammengehören: unsere theoretischen Entwürfe basieren notwendigerweise auf langanhaltender und tiefer Felderfahrung mit Menschen vor Ort.

Die kulturelle und gesellschaftliche Daseinsbewältigung von Menschen, die uns fremd sind, stehen im Zentrum unseres Interessen. Man kann abgeleitet davon sprechen dass Kultur, Gesellschaft und Fremdheit die zentralen Gegenstände sind, mit denen sich das Fach beschäftigt. Früher wurde „Fremdheit“ an ganz bestimmte Orte und Gruppen geknüpft, heute wenden sich Ethnologen und Ethnologinnen dagegen allen Kulturen zu. Der Fokus hat sich somit von "den" Fremden auf das Moment der Fremdheitserfahrung oder auf "das" Fremde verlagert.

Wenn Ethnologen und Ethnologinnen von "Kultur" sprechen, kann allgemein-menschliche Kulturfähigkeit gemeint sein oder aber eine einzelne "Kultur" im Sinne einer "Gesellschaft" oder einer "Ethnie", die aus überall vorhandenen, allerdings unterschiedlich beschaffenen Elementen besteht.

Alle ethnologischen Kulturbegriffe – es gibt unzählige – unterscheiden sich zum Einen von der "Kultur", die alltagssprachlich verengt abendländische Kunst und Dichtung oder verfeinerten Lebensstil bezeichnet. Zum Zweiten unterscheiden sie sich von der im deutschen Kulturpessimismus entwickelten Dichotomie "Kultur-Zivilisation", wobei Kultur als einfaches, quasi-natürliches Leben verstanden wurde, während Zivilisation als Ausdruck der Entfremdung des Menschen von Traditionen und zwischenmenschlichen Beziehungen erschien. Drittens unterscheiden sich die ethnologischen Kulturbegriffe von der Vorstellung einer geschlossenen, in sich homogenen Einheit. Diese Vorstellung wurde früher vielfach auch in ethnologischen Traditionen – etwa dem Evolutionismus und dem Funktionalismus – gepflegt, ist aber seit gut 50 Jahren durch offene und prozessuale Konzeptionen ersetzt worden. Viele Medien, die etwa am Diskurs über den "Kampf der Kulturen" partizipieren, oder auch politische Debatten, die stereotype Vorstellungen von "Leit-" "Multi-" und "Parallelkulturen" erzeugen, sowie die Betroffenheitsindustrie mit ihrem "Dialog der Kulturen" hängen diesem altbackenen und geschlossenen Kulturbegriff jedoch noch häufig an und nehmen die Erkenntnisse der neueren Ethnologien nicht zur Kenntnis. Sie leisten damit einer Kulturalisierung des Sozialen Vorschub, die Fachvertreter einerseits mit Grausen über das Eigenleben ihres "marktführenden Produktes" zur Kenntnis nehmen; der wir uns andererseits als einer sozialen Tatsache mit analytischem Blick zuwenden: Wenn ein solch' seltsam verengter Kulturbegriff für die Menschen, die wir untersuchen, eine Bedeutung hat, dann müssen wir dies ernst nehmen und dürfen es nicht angewidert ignorieren.

Dem heutigen ethnologischen Verständnis von Kultur unterliegt die Erkenntnis, dass Kultur die durch Menschen konstruierte Realität darstellt; dabei ist diese Kultur durchaus in materiellen – etwa körperlichen und geographischen – Erfahrungswelten begründet und keine ausschließlich mentale Angelegenheit. Sie ist auch keine willkürliche und schon gar keine ausschließlich individuelle Konstruktion, sondern sie ist kollektiv und unterliegt Regelhaftigkeiten. In einer Gesellschaft wie der gegenwärtigen in Deutschland, in der man sich hochgradig individualisiert glaubt, kann dies gar nicht stark genug betont werden.

Denn letztendlich versuchen die Menschen überall auf der Welt, v.a. einen alltagspraktischen Umgang mit elementaren Fragen wie die nach dem Sinn des Lebens und Sterbens, des Leidens und der Krankheit, der Lust und des Glückes zu finden – allerdings auf unterschiedliche, kollektive und strukturierte (eben auf kulturelle) Weise.

Die meisten Menschen in Europa glauben, dass es EINE unhinterfragbare und für alle Menschen verbindliche reale Welt gibt. Die Ethnologie belegt aber, dass das, was in der einen Kultur als selbstverständlich gilt, beileibe nicht überall als verbindlich und real betrachtet wird. Sie zeigt auch, dass es innerhalb einer Kultur durchaus Widersprüche und Aushandlungsprozesse über die 'richtige' Version von der Kultur gibt. Und schließlich zeigt sie auch, dass die Bereiche Kultur und Natur nicht überall voneinander geschieden werden; in manchen Gesellschaften gelten Tiere, Pflanze, Naturerscheinungen und Geistwesen als Existenzformen mit Personencharakter und bilden zusammen mit den Menschen eine Kulturgemeinschaft.

Während es die genuine Aufgabe von Wissenschaftlern ist, ständig Sachverhalte zu problematisieren, zu kritisieren, auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen, Neues zu denken, ständig Fragen zu stellen und über Sinnhaftigkeit zu reflektieren, machen die meisten anderen Menschen (und wenn wir ehrlich sind, wir selbst in unserem Alltag) dies gerade nicht permanent; sie tun das, was sie tun, zumeist auf eine Weise, die für sie selbstverständlich ist. Ethnologen und Ethnologinnen wenden sich nun genau diesen Selbstverständlichkeiten zu: Sie wollen wissen, weshalb Menschen tun, was sie tun, warum sie „ticken“, wie sie „ticken“. Und zwar in erster Linie nicht „von außen“ – also etwa durch Befragungen, standardisierte Erhebungen und Interviews – sondern „von innen“. Durch Teilhabe, Teilnahme, Kommunikation, Beobachtung. Ethnologen gewinnen ihre Informationen mittels verschiedener Methoden, insbesondere der teilnehmenden Beobachtung während eines langandauernden Feldaufenthaltes und der Ethnographie. Dadurch wird es möglich, zu den Selbstverständlichkeiten vorzudringen, man könnte auch sagen: sich den informellen Strukturen und (materiellen wie sozialen) Praktiken von Kulturen und Gesellschaften zu nähern. Denn der informelle Bereich wird erst durch lang andauernde Augenzeugenschaft und Teilhabe erkennbar.
Die Beziehung zwischen Ethnographie und Theoriebildung ist vielfältig. Zum Einen begeben sich Ethnologen und Ethnologinnen immer mit konkreten Fragen, sowie theoretischen Vorüberlegungen in ein Feld – sie lassen sich aber weniger von diesen bestimmen, sondern müssen offen sein für das, was sie tatsächlich vorfinden. Und das sind konkrete fremde Menschen (deren Leben wir für eine Zeit teilen), ihre mitunter unerwarteten und überraschenden Lebenslagen und ihre Versuche, mit existenziellen Fragen umzugehen. Das unterscheidet die Ethnologie von jenen Fächern, die vornehmlich theoriegeleitet sind, von theoretischen Vorgaben ausgehen und versuchen, Theorien mit Hilfe der empirischen Realität abzuprüfen. Die Ethnologie hat mit ihrer zentralen Methode, der Feldforschung, den entgegengesetzten Weg gewählt: Theorie wird aus der Empirie gebildet. Fach und Methode sind daher in erster Linie explorativ und theoriegenerierend. Das ethnographische Material wird dann mit vielfältigen, vor allem aber mit interpretativen Methoden ausgewertet.
Zum Anderen fußt das Erkenntnisinteresse von Ethnologen und Ethnologinnen natürlich auf Theorien und philosophischen Grundlagen. Diese Grundlagen können bei den einzelnen Fachvertretern jedoch unterschiedlich sein – und sie können sich über die Jahre auch verändern. In Bochum spielen die Phänomenologie und die Interpretative Anthropologie eine wichtige Rolle, sowie Namen wie Geertz, Feyerabend, Fernandez, Descola, Foucault, Bourdieu, Khattibi und Waldenfels, was eine große Offenheit gegenüber anderen Ansätzen jedoch nicht ausschließt. Was die Theoriebildung betrifft, so versucht die Bochumer Ethnologie allerdings in erster Linie aus dem reichhaltigen Schatz der Feldforschungen auf behutsame Weise Beiträge zu leisten. Denn das Interesse gilt vorderhand einzelnen Kulturen oder Menschengruppen, die konkret untersucht werden. Das Wissen darüber wird jedoch mit dem Wissen über andere Gruppen und Kulturen kontrastiert und in Beziehung gesetzt (Kulturvergleich).

Noch ein paar Worte zum gesellschaftlichen Kontext, in dem sich die Ethnologie heute zu positionieren hat. Dieser Kontext ist stark von der Ökonomisierung, Bürokratisierung und Kommodifizierung des Wissens beeinflusst. Den Wissenschaften wird heute abverlangt, ihre Nützlichkeit zu beweisen – wobei die Vorstellung davon, was ein Nutzen ist, stark von praktischen, anwendbaren und ökonomischen Erwägungen geprägt ist. Ethnologen und viele Vertreter und Vertreterinnen anderer Disziplinen haben jedoch andere Vorstellungen von der Aufgabe der Wissenschaften. So versteht sich die Ethnologie beispielsweise weder als Prognosewissenschaft noch als Problemlösungsdisziplin – sondern in erster Linie in guter altmodischer humboldtscher Manier als verstehende, interpretierende und erklärende Wissenschaft. Darin liegt ihre Aufgabe. Der Münchner Soziologe Armin Nassehi (2004) formuliert dieses Wissenschaftsverständnis wie folgt:

"Sind nicht jene kollektiven Adressaten, an die uns zu wenden wir gewohnt sind, kategoriale Erfindungen sowohl der historischen Kulturwissenschaften wie der systematischen Sozialwissenschaften? Könnten wir wirklich als Individuen ‚handeln’, würden wir nicht mit jener Idee versorgt, dass alles, was im sozialen Raum geschieht, auf die Intention von Akteuren zurückgeht? (…) Gäbe es Völker ohne den Volksgeist und diesen ohne seine Reflexion in kulturwissenschaftlichen Begriffen; und gäbe es ihre Dekonstruktion zu Verfassungspatriotismen oder wiederentdeckten Kosmopolitismen ohne die technologische Arbeit unserer Weltdeuter? (…) Ist nicht selbst ein zünftiger Krieg gegen vorderasiatische Völker nur möglich, wenn man vorher den "Orient" erfunden hat?"

Wenn man es ganz bewusst in der seelenlosen neoliberalen Terminologie ausdrücken mag: Die Ethnologie ist eine der "produktnahen" Formen von Wissenschaft und gehört damit zu den eigentlichen "Technologiezentren" der modernen Welt, die jene Denk- und Erfahrungschiffren herstellen, mit denen wir uns in unserer Welt bewegen. "Marktführer" unserer Disziplin ist der Begriff der Kultur, "das erfolgreichste technologicum, das in den letzten zwei Jahrhunderten produziert wurde". Wie andere Sozial- und Kulturwissenschaften auch, so stellt die Ethnologie eine "Fabrik" unserer individuellen und kollektiven Beschreibungs- und Bemessungsformeln dar. Und wie andere Wissenschaften auch ist sie gegen Missbrauch nicht gefeit; wie die Produkte der Atomphysik, so vermögen auch ihre "Produkte" zerstörerische Wirkung zu entfalten – das belegt die bewusste Falschanwendung genuin ethnologischer Begriffe, etwa die "ethnische Säuberung", der Kampf "der" Kulturen, die Debatte um "Leit-" und "Parallelkulturen".

Somit positioniert sich der Lehrstuhl in Lehre und Forschung für eine Wissenschaftlichkeit im Sinne des Neo-Humboldtianismus; er wendet sich entschieden gegen eine Verengung auf die ökonomische Verwertbarkeit. Aber er erkennt die von der ökonomischen Verwertbarkeit geleitete Rhetorik und Praxis der Wissensmanager als kulturelle Tatsache und damit als Forschungsgegenstände an, die analysiert und kulturell kontextualisiert werden müssen: so wäre es sinnvoll, die kulturellen Werte und Vorstellungen herauszuarbeiten, die der Rede von der Effizienz, Qualitätsmanagement, Evaluierung, Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit unterliegen.

Die Bochumer Ethnologie ist letztendlich der Überzeugung verpflichtet, dass Wissenschaft nicht vom Primat der Ökonomisierbarkeit geprägt sein darf; und dass Wissen in erster Linie eine Lebensform, einen persönlichen Besitz, eine innere Bereicherung darstellt. "Wir betreiben keine unmittelbare Berufsausbildung, sondern bilden, lehren, Fragen zu stellen, Zusammenhänge zu sehen, schnell, aber auch langfristig und zäh zu forschen. Es gibt keine bessere Berufsausbildung als eine gewisse Distanz zu den täglichen Anforderungen des Berufes" (der Kunsthistoriker Horst Bredekamp in DIE ZEIT 01.02.2006).